Fit im Winter

Winter ist Yin-Zeit, es ist dunkel und kühl, die Energie sinkt und kommt zur Ruhe. Die Yang-Energie wandert ins Innere und bleibt dort bis zum Frühling. Die Blätter fallen, manche Tiere suchen sich einen warmen Ort, haben sich Vorräte angelegt oder fliegen in den Süden.

Der Winter ist die Zeit des Bewahrens, Bevorratens, Aufbewahrens (im Chinesischen „cang“ 藏), so wie das Getreide im Herbst geerntet und in einen Speicher eingelagert wird. Der Winter „dong“ 冬 bedeutet soviel wie Ende “zhong“ 终” . Das ist der letzte Abschnitt des Jahres, die „älteste“ und „weiseste“ Jahreszeit, der Abschluss und gleichzeitig Übergang und Vorbereitung auf den Wiederbeginn im Frühling. In dieser Zeit hört man am besten, sich selbst und seinen Körper, aber auch andere Menschen. Jedes Geräusch wird verstärkt, weil es so still ist, weil die gesamte Natur steht, auch im übertragenen Sinn. Passend dazu sind im Winter in China wie im Westen die großen Familienfeierlichkeiten wie Neujahr, Weihnachten, Fasching, Frühlingsfest. Die chinesische Alltagskultur ist uns manchmal so frappierend ähnlich, viele Gewohnheiten und Sprichwörter sind fast identisch, manches ist aber auch überraschend anders.

Der Winter ist eine Zeit des Nachdenkens, des Sich-Zurückziehens, Regenerierens und Reflektierens, im Übermaß der Besorgnis, Mattigkeit und Niedergeschlagenheit. Man liebt nährende, „warme“ Nahrungsmittel wie Kartoffeln, Wurzelgemüse, Kohl, Lauch, dunkles Fleisch, Knoblauch, Ingwer, Süßes und sauer Eingelegtes. Den unteren Teil des Körpers sollte man gut warm halten, den Kopf dagegen kühl. Man geht früh ins Bett und steht etwas später auf. Qigong-Übungen macht man erst, wenn die Sonne über den Horizont kommt. Allzu heftigen Sport sollte man meiden, aber keine Bewegung und nur hinter dem Ofen zu sitzen, ist auch nicht gesund.

Am 7. November 2021 beginnt in China der Winter
立冬:
Feiner Regen erzeugt Kälte
Vor dem Hof fallen Blätter
Im Pfirsichblüten-Quell
duften die Pflaumenblüten

Winter ist Nieren-Zeit. Die Nieren – der Ursprung des Lebens, das Wassers, der salzige Geschmack, aber nicht zuviel, der Norden, das Ursprung-Qi, das „Jing“ 精, die „Essenz“, die mit der Reproduktion, der Entwicklung und des Alterns zusammenhängt. Fast alles abwärts der Nieren korrespondiert dazu: die Blase, der untere Rücken, das Becken, die Knie, die Füße und – Überraschung – die Ohren.

Im Winter tut man gut daran, das Nieren-Yin und -Yang zu stärken mit entsprechender Lebensweise, passenden Nahrungsmitteln und kleinen Bewegungsübungen. Warme Fuß- und Sitzbäder am Abend tun gut, fleißig die Ohren und den unteren Rücken massieren ebenfalls. Häufige heiße Bäder oder Duschen sollte man meiden, da es die Yang-Energie aus dem Körperinnern an die Oberfläche treibt. Generell tut alles gut, was den natürlichen Lauf der Natur unterstützt, also alles, was das Yang im Innern hält, die Energie bewahrt und absinken lässt, wärmt, vor allem die Nieren, Süßliches wie Kraut, Kartoffeln, Kürbis tun der Verdauung gut, Bitteres und Saures dem Herz-Qi, Kaltes wie Zitrusfrüchte sollte man meiden.

Eigentlich ganz einfach, wenn man die natürlichen Vorgänge so gut beobachtet und in ein harmonisches System bringt wie die Chinesen. Mit der Natur gehen, nicht gegen sie. Wer sich mit der Natur anlegt, hat schon verloren.

Zum Abschluss noch zwei herrlich einfache Nierenübungen:

  1. Knie wärmen: Hände aneinander reiben bis Wärme entsteht. Füße parallel stellen, etwas in die Knie gehen und die Hände auf die Knie legen, bis sie warm sind. Dann bis in die Füße, bis zur „Springenden Quelle“ spüren und mit den Knien verbinden. Genauso in die andere Richtung bis in den unteren Rücken und die Nieren spüren. Wenn die Verbindungen hergestellt sind, die Knie rotieren lassen, 9x nach links und 9x nach rechts (18x oder 36x geht natürlich auch). Füße, Beine, Becken, Beckenboden, unterer Rücken und Nieren müssten sich nun angenehm warm anfühlen.
  2. Das ursprüngliche Qi fließt ins Meer („Yuanqi ruhai“ 元气入海): Hände auf den unteren Bauch legen, einatmen, Atem anhalten und 3x in jede Richtung drehen. Die Hände vor der Brust zusammenlegen und aneinander reiben bis sie warm sind, dabei in die Nieren einatmen. Dann die warmen Hände auf die Nieren legen bis die Wärme in den Nieren spürbar wird und super angenehm den unteren Rücken und die Beine nach unten läuft, dabei ausatmen und Speichel schlucken. Wieder in die Nieren einatmen, Atem anhalten und mit der flachen Hand die Nieren reiben, 9x nach oben und unten. Wieder ausatmen. Insgesamt 3x. Danach das Becken drehen, 3x nach rechts, 3x nach links. Auf dieselbe Art folgen noch Nieren im Kreis reiben und Nieren mit der Faust klopfen, aber nicht zu stark reiben oder klopfen. Das Bewusstsein ist auf die Nieren, Beine, Füße gerichtet, der Atem füllt die Nieren und den ganzen Körper. Auch als Partnerübung sehr gut geeignet.
Teehaus im Schnee 雪中茶室
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Die Kaiserresidenz in Beijing ist 600 Jahre alt

Im Jahr 1420, also vor genau 600 Jahren, ist der Kaiserpalast in Beijing fertiggestellt worden. 600 Jahre sind eigentlich eine lange Zeit, für das kaiserliche China waren es jedoch nur die letzten beiden Dynastien, die chinesische Ming-Dynastie und die manchurische Qing-Dynastie. Die Kaiserpaläste und Hauptstädte lagen seit dem Beginn der Kaiserzeit im 2. Jh vor Chr. weiter im Süden und Westen des Landes, z.B. in Nanjing oder Suzhou, in Luoyang und vor allem im zentral gelegenen Xi’an. Erst die Mongolen gründeten im 13. Jh. ihre Hauptstadt in der Nähe des heutigen Beijings. Dadu hieß sie, Marco Polo berichtete von ihr, China war damals Teil des viel größeren Mongolenreichs. Der Ming-Kaiser Zhu Di verlegte 50 Jahre später endgültig die Hauptstadt in den Norden in die Nähe der Großen Mauer. 1406 fing er damit an, 10 Jahre Vorbereitung und Planung und nur 4 Jahre Bauzeit. 

Auch wenn die Beijing-Zeit nur ein kleiner Ausschnitt der chinesischen Geschichte ist, die grandiose Architektur, die Blütezeit der beiden Herrscherhäuser, die Rebellionen, der Konflikt mit dem Westen und schließlich das Ende des kaiserlichen Chinas im Jahre 1912 sind so vielfältig und umfangreich, dass ein Artikel nicht ausreicht. Ich versuche es erst gar nicht und begnüge mich nur mit ein paar wenigen Schlaglichtern.

Wie groß ist eigentlich der Kaiserpalast?
Der Kaiserpalast ist 723.633 qm groß, 753 m in Ost-West-Richtung und 961 m in Nord-Süd-Richtung. Auf diesem Gelände stehen 980 Gebäude mit 8707 Räumen. Der Kaiserpalast ist damit die größte zusammenhängende Palastanlage der Welt und mit 1,8 Millionen Artefakten eines der umfangreichsten Geschichtsmuseen. Aber die Anlage ist nur im Zusammenhang mit ihrer Umgebung zu verstehen. Eine knapp 8 km lange Nord-Süd-Achse teilt nicht nur den Kaiserpalast in zwei symmetrische Hälften, sondern sie verläuft auch genau durch die Mitte Beijings. Auf dieser Zentralachse sind die wichtigsten Gebäude aufgereiht: das südliche Yongding-Stadttor, das Mao-Mausoleum, das Denkmal für die Helden der Revolution, die fünf Tore und die drei Höfe des Palastes, der Jing-Berg, der Glocken- und der Trommelturm. Diese Achse ist das Zentrum, das Zentrum des Palasts, der Hauptstadt, des Reichs, ja im klassischen China der gesamten bekannten Welt Tianxia. Sie steht als Kraftlinie symbolisch für den kaiserlichen „Drachen-Puls“, im Norden Berge, im Süden Wasser, im Norden sitzend nach Süden schauen, ganz nach der klassischen Fengshui-Lehre. Heute kann man diese Achse noch auf dem Stadtplan Beijings erkennen, auch wenn sie von zahlreichen Querstraßen zerschnitten wird. Auch heute ist der Kaiserpalast die Mitte Beijings, auch wenn die Stadt um ein Vielfaches gewachsen ist, Zhongnanhai, Teile der Gartenanlage, ist auch heute Regierungssitz.

Wer hat den Kaiserpalast und Beijing bauen lassen?
Kaiser Zhu Di, der dritte Ming-Kaiser, verlegte die Hauptstadt von Nanjing nach Beijing. Er hat in seiner Regierungszeit „Ewige Freude“ (1403 bis 1424) nicht nur die Hauptstadt verlegt, sondern auch mehrere Großprojekte vollendet. Er ließ die Große Mauer ausbauen und wehrte die Angriffe nördlicher Steppenvölker ab, er ließ eine stattliche Flotte bauen, die bis nach Afrika fuhr, er ließ das gesamte Wissen seiner Zeit in eine 12.000-bändige Enzyklopädie fassen, er fühlte sich dem Wassergott des Nordens, Xuanwu, sehr nahe, ein Tempel am Nordtor des Kaiserpalasts und der umfassende Ausbau des daoistischen Klosterareals in Wudangshan gehen auf ihn zurück. Bis heute wird dort Xuanwu verehrt. Zhu Di war sicherlich einer der herausragenden Herrscher Chinas. 

Welche Bedeutung hat der Kaiserpalast?
Die Architektur des Kaiserpalasts ist gebaute Kosmologie, ist nichts weniger als Abbild der harmonischen Ordnung des Universums mit dem Kaiser als Sohn des Himmels im Zentrum. Anhand des Kaiserpalasts kann man die komplette chinesische Weltanschauung erklären. Sowohl die Yin-Yang- als auch die Fünf Phasen-Lehre spiegeln sich darin wider. Es kommt gar nicht so sehr auf einzelne Gebäude an, sondern auf die Gesamtanlage, auf die Abfolge von Toren, Hallen und Palästen, Hügeln, Flüssen und Brücken, auf die Anzahl der Durchgänge, auf die Abstände, Maße, Dachneigungen der Gebäude und Winkel der Plätze und nicht zuletzt auf die Farben: das Mittagstor im Süden steht für das Feuer und ist knallrot, das Nordtor steht für das Wasser und trägt schwarze Farbe, die Mitte, der Zhonghe-Palast, ist gelb wie die Erde. Diese Gesamtkomposition strahlt eine unglaubliche Ruhe und Harmonie aus, die jeden berührt, der sich in dieser Anlage bewegt. Das gilt nicht nur für den Kaiserpalast, sondern auch für den Himmelstempel und die kaiserlichen Grabanlagen, soweit sie als Gesamtanlagen noch intakt sind.  

Und heute?
Heute kommen 19 Millionen Besucher im Jahr, Kaiser Zhu Di wird zur Wechat-fähigen Comicfigur, historische Figuren tanzen und schauen durch VR-Brillen und leise rieselt der Schnee auf historischen Rollbildern. Ein umfängliches Merchandising-Programm mit Notizbüchern, Lippenstiften, Seidentüchern und Teetassen bringt auf der größten E-Commerce-Plattform T-Mall einen traumhaften Umsatz von 10 Milliarde RMB im Jahr 2015, Apps bieten stimmungsvolle Fotos vom Palast im Schnee oder inmitten blühender Pflaumenbäume – der findige Museumsdirektor Shan Jixiang hat sich eine Menge einfallen lassen, um die Jahrhunderte alte Geschichte des alten Palastes in die Neuzeit zu holen und vor allem der jungen Generation schmackhaft zu machen. Er sieht es als seine Pflicht an, die ehemalige Kaiserresidenz zu einem Teil des modernen Lebens zu machen und fragt sich, wie würden sich die historischen Figuren heute verhalten. Er organisiert mehr Ausstellungen, sodaß von den 1,8 Millionen Artefakten des Museums deutlich mehr der Öffentlichkeit zugänglich werden. Apps lassen alle daran teilhaben, auch diejenigen, die nicht ins Museum gehen. Eine Reihe von Videos stellen die Geschichte des Palasts und seine Sehenswürdigkeiten vor, ein neues, stylisches Café lädt zum Verweilen ein, und es werden immer mehr Areale des Palastes renoviert und für Besucher geöffnet. 

Zhu Di, der Gründer von Beijing, in Wechat-kompatibler Form. Das komplette, sehr sehenswerte Rap-Video findet sich hier:
https://v.qq.com/x/page/c0311sp8s1g.html

Nicht jedem gefällt die Wandlung des alten Palastes hin zur Lifestyle-Marke. Aber eines hat Shan geschafft: er hat den Staub der Jahrhunderte weggeblasen, er spricht die Massen an, vor allem junge Menschen, er verbindet geschickt historisches Wissen mit neuer digitaler Technik und verleiht dem altehrwürdigen Kaisertum eine spielerische, unterhaltsame Note. Chapeau, das kann nicht jeder Museumsdirektor von sich behaupten. 

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Was kommt nach dem Homeoffice?

Wir sind derzeit im Homeoffice, wie viele deutsche Unternehmen, und das wird noch bis zum 20. April andauern, wie Kanzleramtschef Helge Braun klargestellt hat. Das ist gut so angesichts der exponentiell steigenden Corona-Fallzahlen in Deutschland. Aber auch dieser Zustand wird einmal ein Ende haben. Irgendwann werden auch wir wieder in unsere Büros gehen. Nur, wie wird dann unser Arbeitsalltag aussehen?

Ein Blick nach China kann uns vielleicht eine Vorstellung davon geben, was auf uns zukommt. China ist uns zwei Monate im Corona-Zyklus voraus. So lange hat es dort gedauert, bis die Behörden die Ausbreitung des Virus unter Kontrolle hatten. Unter Einhaltung bestimmter Auflagen und Hygienevorschriften können die Unternehmen ihre Büros seit einiger Zeit wieder öffnen. Die Beijinger Tageszeitung hat den Xi’er Qi-Software-Park im Hightech-Park Zhongguancun in Beijing besucht und den Mitarbeitern der Internetfirma Flink&Flott über die Schulter geschaut.

Corona-Fälle in Beijing, Stand 29. März 2020. Quelle: Johns Hopkins Universität Corona Research Center

Vorab: Die 22-Millionen-Stadt Beijing war vom Ausbruch des Corona-Virus nur am Rande betroffen wie fast alle Städte und Regionen in China außer der Stadt Wuhan und der Provinz Hubei. Stand heute, 29. März 2020, gab es in Beijing laut Johns Hopkins Universität bislang 8 Tote und 577 Corona-Fälle. Aktuell gelten 411 als geheilt. Damit gibt es derzeit 158 aktive Fälle. Das sind – Augenblick mal – genau 0,0007 Prozent. Das ist eine relativ überschaubare Zahl verglichen mit den Zahlen in Europa und trotzdem gelten in Beijing sehr, sehr strenge Regeln.

In einem Büro der Internetfirma Flink&Flott: die Hälfte der Mitarbeiten arbeiten wieder. Foto: Paizhe

Ohne Temperaturmessung kein Zutritt
Die Firma Flink&Flott zählt 7.000 Angestellte, sie arbeiten in Großraumbüros wie das in China üblich ist unter für uns relativ engen Verhältnissen. Deswegen kommen nur etwa die Hälfte, sodass der Mindestabstand zum Arbeitskollegen gewahrt bleibt. Flink&Flott bezahlt die Anfahrt mit dem Taxi, damit die Angestellten keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen müssen. Am Eingang zum Gebäude wird die Temperatur gemessen. Ist sie im Normbereich, erhält der Angestellte eine gelbe Karte mit aufgedrucktem Tagesdatum, die ihn dazu berechtigt, sich die nächsten vier Stunden ohne weitere Temperaturkontrollen auf dem gesamten Firmengelände frei zu bewegen. Ist man Besucher, dann muss man sich zusätzlich am Empfang persönlich mit Unterschrift registrieren. Der Stift, mit dem man unterschreiben muss, wird in einer Desinfizierbox aufbewahrt. Bevor man nun das Gebäude betritt, geht man noch mehrere Schritte über eine Matte, die die Schuhsohlen desinfiziert.

Kosmetiktücher im Aufzug und viele, viele Hinweisschilder, Foto: Paizhe

Kosmetiktücher im Aufzug
Das gesamte Firmengelände wird zweimal täglich mit flüssigen Desinfektionsmitteln komplett besprüht, die Aufzüge vierzehnmal. Nur bis zu acht Personen dürfen einen Aufzug gleichzeitig benutzen, Aufkleber am Boden zeigen an, wo man stehen soll. Damit man die Knöpfe im Aufzug nicht berühren muss, hängen Kosmetiktücher an der Wand. Jeder Mitarbeiter kann sich außerdem pro Woche sechs Atemmasken kostenfrei abholen. Das Tragen der Masken ist selbstverständlich Pflicht, am Arbeitsplatz wie in der Öffentlichkeit. Auf der Toilette, im Foyer, vor den Aufzügen, in den Aufzügen, an den Eingangstoren – das Firmengelände ist bepflastert mit Hinweisen, wie man sich in Corona-Zeiten richtig zu verhalten hat.

Mittagspause bei Flink&Flott: Essen unterm Schutzschirm, Foto: Paizhe

Essen unterm Schutzschirm
Ein besonders sensibler Bereich ist die Kantine. Sie hat bei Flink&Flott natürlich geschlossen. Dafür gibt es morgens eine Ausgabestelle, wo sich jeder Mitarbeiter – nachdem er sich mit dem bereitgestellten Desinfektionsmittel die Hände besprüht hat – eine Frühstückstüte abholen kann. Das Mittagessen wird angeliefert und auf jedem Stockwerk zur Selbstabholung bereitgestellt. Gegessen wird am Arbeitsplatz unter einem speziell dafür entwickelten Schutzschirm. Der firmeneigene Friseur und das Fitnessstudios haben selbstverständlich geschlossen. Pakete, die per Kurierdienst angeliefert werden, liegen erst einmal eine Weile unter ultraviolettem Licht, bevor sie angefasst und geöffnet werden, auch das soll eine desinfizierende Wirkung haben.

Übertreiben die Beijinger?
Das sind schon sehr viele weitreichende Maßnahmen. In Beijing dürfte man derzeit keinen Schritt vor die Haustüre tun können, ohne auf das Virus und die richtige Verhaltensweise hingewiesen zu werden. Übertreiben die Chinesen? Vielleicht. Vielleicht übertreiben sie in dem Maß wie wir untertreiben. Das Virus macht keinen Unterschied zwischen Chinese und Europäer, Amerikaner oder Afrikaner. In Europa haben wir viel zu lange mit vergleichbaren Maßnahmen gewartet. Vergessen wir nicht, China hat viel mehr Erfahrung mit Viruskrankheiten als wir. Seine erste Epidemie dieser Art war SARS vor zwanzig Jahren. Schon zu kaiserlichen Zeiten reagierte China mit sehr konsequenten und drastischen Maßnahmen auf Seuchenausbrüche. Das konsequente Abriegeln von betroffenen Regionen wie die Stadt Wuhan, ist für China nicht neu. Lieber übertreiben als untertreiben. Hilft Leben zu retten und hilft zu arbeiten und trotzdem die Verbreitung des Virus zu hemmen.

Der Artikel inklusive Fotos basiert auf einer Reportage der Beijinger Tageszeitung, die von „Paizhe“, dem Fotografen der Reportage, auf WeChat veröffentlich wurde. Der Titel der Reportage lautet: 疫情之下:一家互联网公司的复工之路 (Unter dem Corona-Virus: Wie eine Internetfirma wieder zur Arbeit zurückkehrt).
Hier geht es zum Originalartikel auf WeChat: https://mp.weixin.qq.com/s/ZKdKon0iklh2qrlBXD6d8g

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Kai-Fu Lee: 
Ohne Kulturwandel wird Künstliche Intelligenz die Gesellschaften spalten

„Lassen Sie uns den Entschluss fassen, Maschinen Maschinen sein zu lassen und Menschen Menschen. Beschließen wir, unsere Maschinen lediglich zu nutzen, und wichtiger noch: uns gegenseitig zu lieben“ – dazu ruft uns Kai-Fu Lee ganz am Ende seines Buchs auf. Wie kommt ein solcher Satz in ein Buch mit dem Titel „AI Superpowers – China, Silicon Valley und die neue Weltordnung“? Denkt man bei diesem Titel doch zunächst an den Technologie-Wettkampf zwischen China und den USA, an den Wettlauf zweier Supermächte um die KI-Krone. 

Genau damit fängt der international renommierte KI-Wissenschaftler und Unternehmer Kai-Fu Lee auch an. Lee kann eine großartige Karriere in der IT-Industrie in den USA und in China vorweisen, hat in den USA Highschool und Universität absolviert, arbeitete später im Silicon-Valley für große Technologie-Konzerne, leitete Google China und  gründete schließlich sein eigenes Wagniskapital-Unternehmen Sinovation Ventures im Beijinger Technologie-Park Zhongguancun. 

In den letzten 5-10 Jahren hat sich ein grundlegender Wandel vollzogen, meint Lee. Noch vor ein paar Jahren sind die US-amerikanischen Internetfirmen in China einfach kopiert worden. Google, Youtube, Facebook, E-Bay, Twitter, Uber – alle haben ihr „chinesisches Pendant“. Sie heißen Baidu, Youku, Weibo, Alibaba oder Didi. Mittlerweile haben sich diese „Copycats“ jedoch weiterentwickelt, an chinesische Bedürfnisse angepasst und eigenständige Produkte auf den Markt gebracht, die es so im Westen nicht gibt. Bestes Beispiel ist Tencents WeChat, das „Schweizer Taschenmesser“ unter den Apps. WeChat, als einfacher Messenger gestartet, deckt mittlerweile quasi alle Lebensbereiche ab. Neue Unternehmen sind dazu gekommen wie zum Beispiel die Gruppenrabatt-Website Meituan-Dianping, der Online-Fahrradverleih Mobike oder die Firma Bytedance, die die Kurzvideoplattform Tiktok entwickelt, die auch viele Fans im Westen hat. 

Lee erklärt, dass konsequente Kundenorientierung und ein brachialer Wettbewerb dazu geführt haben. Eine erfolgreiche Geschäftsidee wird in China sofort massenweise kopiert. Chinesische Unternehmer sind deswegen gezwungen, ihre Produkte laufend zu verbessern. Sie entwickeln neue Anwendungen, diversifizieren in großem Stil, verfolgen wenn nötig eine aggressive Preispolitik und kontrollieren strikt ihre Lieferketten. Wer sein Produkt nicht wirkungsvoll schützen kann, geht sehr schnell unter. Inzwischen haben sich fast alle US-Internetfirmen aus China zurückgezogen. Natürlich hat die Politik der Regierung ihren Teil dazu beigetragen, indem sie den chinesischen Markt gegen ausländische Internet-Unternehmen abschottet und einheimische Firmen auf vielfältige Weise fördert, aber im Kern sind die chinesischen Firmen konkurrenzfähiger und näher am chinesischen Kunden. Firmen im Silicon Valley hingegen, meint Lee, arbeiten unter vergleichsweise komfortablen Bedingungen. 

Nachteil der halsbrecherischen Entwicklung und der Hyper-Konkurrenz: für Grundlagenforschung ist keine Zeit. Die chinesischen Anwendungen basieren auf den Grundlagen, die europäische und US-amerikanische Institutionen und Unternehmen geschaffen haben. Dies fällt jedoch nicht mehr ins Gewicht, meint Lee. Die Grundlagen sind geschaffen, jetzt kommt es darauf an, vielversprechende Geschäftsideen im Markt zu implementieren. Dafür braucht es keine Spitzenbegabung wie sie das Silicon Valley anzieht, sondern vor allem zahlreiche findige Anwendungsprogrammierer, die China gerade dabei ist auszubilden. 

Und noch ein Umstand spielt China in die Hände: große Datenmengen. Mehr als 60% aller Chinesen nutzen das Internet. Das sind mehr als 800 Millionen Menschen, die die chinesischen Technologie-Unternehmen in die Lage versetzen, Unmengen von Daten zu sammeln. Je mehr Daten zur Verfügung stehen, desto besser und genauer werden die KI-Produkte. Lee sagt voraus, dass das Silicon Valley heute noch die Nase vorn hat, aber China wird in wenigen Jahren  aufholen. „Wenn man all diese Faktoren zusammennimmt – den doppelten Übergang in das Zeitalter der Implementierung und der Daten, Chinas Weltklasse-Unternehmer und seine proaktive Regierung –, so wird China meiner Meinung nach bei der Entwicklung und dem Einsatz künstlicher Intelligenz bald mit den Vereinigten Staaten mithalten oder sie sogar überholen.“

Was Lee leider nicht erwähnt, sind Internet-Zensur, Überwachung mittels KI oder ethischen Diskussionen über Datenschutz. Er spricht in diesem Zusammenhang vielmehr von „technischem Nützlichkeitsdenken“, das eine schnelle, wirtschaftliche Entwicklung eher beflügelt. Chinas Top-Down-Ansatz bei der Modernisierung kann zwar auch zu Verschwendung und Fehlallokation von Mitteln führen, aber beim „Aufbau einer Gesellschaft und einer Volkswirtschaft, die bereit sind, das Potenzial der KI zu nutzen, ist der von technischem Nützlichkeitsdenken geprägte Ansatz Chinas im Vorteil“. 

So positiv Lee die technisch-wirtschaftliche Entwicklung der KI einschätzt und so sehr China davon profitiert, so dramatisch schätzt er die sozialen Folgen ein, und zwar nicht nur bezogen auf zwei Supermächte, sondern auf die gesamte Welt. Lee geht davon aus, dass wir innerhalb von 10-20 Jahren technisch in der Lage sein werden, 40-50% aller Arbeitsplätze zu automatisieren. Sicherlich entstehen zusätzlich neue Arbeitsplätze, aber der Markt allein wird nicht in der Lage sein, die zahlreichen wegfallenden Arbeitsstellen auszugleichen und einen Kulturwandel herbeizuführen. „Ohne entsprechende Gegenmaßnahmen wird KI die Ungleichheit sowohl auf nationaler wie auf internationaler Ebene drastisch erhöhen. Sie wird einen Keil zwischen die KI-Supermächte und den Rest der Welt treiben und könnte die Gesellschaften entlang von Klassengrenzen spalten.“ Die KI-Supermächte werden China und die USA sein, andere Länder, auch Europa, spielen nur eine untergeordnete Rolle. 

Besonders betroffen sind Arbeiten, die von Algorithmen oder Robotern schneller und besser verrichtet werden als von Menschen wie zum Beispiel ärztliche Diagnosen, Buchhaltung, Übersetzungen, Finanzanlage-Beratung oder industrielle Fertigung. Besonders betroffen sind auch Entwicklungsländer, da sich Lieferketten verändern und Herstellungsprozesse in die Ursprungsländer zurückverlagert werden. Außerdem neigt KI zur Monopolbildung. „Verbesserte Produkte locken neue Nutzer an, diese Nutzer generieren weitere Daten, die wiederum zu noch besseren Produkten und somit zu weiteren Nutzern und Daten führen. Hat ein Unternehmen sich erst einmal einen Startvorteil gesichert, so kann ein solcher wiederkehrender Zyklus diesen Vorsprung in eine unüberwindbare Markteintrittsbarriere für andere Firmen verwandeln. Chinesische und US-amerikanische Unternehmen haben diesen Prozess bereits angekurbelt und sich einen gewaltigen Vorsprung vor dem Rest der Welt erarbeitet.“

Weniger oder gar nicht betroffen sind hingegen Dienstleistungen, die unmittelbar mit Menschen zu tun haben wie Krankenpflege, häusliche Betreuung, Kindererziehung, gemeinnützige Arbeit oder Sozialarbeit. Viele dieser Tätigkeiten sind heute jedoch nicht sehr hoch angesehen, geschweige denn gut bezahlt.

Im Alter von 53 Jahren erfährt Lee, dass er schwer an Krebs erkrankt ist, ein Lymphom im 4. Stadium. Lee beginnt, über sein Leben neu nachzudenken, auch darüber, was im Leben eigentlich wichtig ist. Seine außergewöhnlichen beruflichen Erfolge als KI-Wissenschaftler und Geschäftsmann schrumpfen im Angesicht des Todes zur Bedeutungslosigkeit. Ihm wird schmerzlich bewusst, wie kühl berechnend er bisher mit Menschen umgegangen ist und wie wenig Zeit er mit seinen liebsten Menschen verbracht hat. Zusätzlich zur Chemotherapie besucht Lee das buddhistische Kloster Fo Guang Shan in Taiwan und erhält dort den Anstoß für sein neues Denken: „Wir müssen erkennen, dass es in dieser Welt nichts Größeres oder Wertvolleres gibt als den schlichten liebevollen Austausch mit anderen. Wenn wir damit beginnen, findet sich alles andere von selbst. Nur so können wir wirklich zu uns selbst finden.“

Lee ist überzeugt, dass wir die Herausforderungen des KI-Zeitalters nur dann erfolgreich meistern  werden, wenn wir eine Symbiose zwischen Mensch und Maschine schaffen und einen umfassenden Kulturwandel vollziehen. „Wir können nicht mit Maschinen konkurrieren, die uns in naher Zukunft in vielem überlegen sein werden. Wir müssen uns auf das konzentrieren, was den Menschen einzigartig macht.“ Beim Übergang in das KI-Zeitalter werden wir uns von einer Mentalität verabschieden müssen, die Leben mit Arbeit gleichsetzt oder Menschen als Variablen in einem riesigen Produktivitäts-Algorithmus betrachtet, so Lee. „Stattdessen müssen wir uns eine neue Kultur zu eigen machen, in der Liebe, der Dienst am Menschen und Empathie mehr Wertschätzung genießen als je zuvor.“ Lee schlägt eine Reihe von konkreten Maßnahmen vor wie gute Bezahlung sozialer Dienste, gemeinnütziger Arbeit und Fortbildung („Sozialinvestitions-gehalt“), gesellschaftliches Engagement privater Firmen, das Aktionären, Beschäftigten, Kunden und der Gemeinschaft zugute kommen („Impact-Investing“) sowie ein starker Staat, der die von  der KI generierten Überschüsse verteilt.

Manche mögen Lee belächeln, seine Ideen für naiv oder weltfremd halten. Aber es gibt prominente Unternehmer, die in eine ähnliche Richtung denken und handeln. Der bekannteste unter ihnen ist der Gründer von Alibaba, Jack Ma. Er hat sich im Jahr 2019 aus dem Unternehmen zurückgezogen, um sich seiner Stiftung zu widmen. Auf dem World Economic Forum 2018 in Davos sagte er: „Wir müssen unseren Kindern etwas Einzigartiges beibringen, sodass eine Maschine sie niemals einholen kann: Werte, an etwas glauben, unabhängiges Denken, Teamarbeit, sich um andere kümmern – die Soft Skills – Sport, Musik, Malen, Kunst, damit wir sicher sein können, dass sich Menschen von Maschinen unterscheiden“. Dazu zählt auch die Fashion-Ikone Ma Ke, die das erste chinesische Designerlabel Exception gründete und heute für die First Lady designt, hat sich schon vor einigen Jahren zurückgezogen, um das  Sozial-Unternehmen Wuyong aufzubauen. „Eine Gesellschaft ohne Mitgefühl ist beängstigend“, sagte sie 2016 in Beijing auf einer Veranstaltung, in der kulturelle Identität, Handarbeit, Umweltschutz und soziale Werte im Mittelpunkt standen. Dies sind nur ein paar Beispiele von Chinesen, die sich für mehr Mitmenschlichkeit und Nachdenklich-keit aussprechen. Die Zahl derer, die innehalten, die nach 40 Jahren halsbrecherischer Wirtschaftsentwicklung nach mehr Sinnhaftigkeit und menschlicher Zuwendung suchen, nimmt in China zu. Lee gehört auch dazu, wie sein eingangs erwähntes Zitat zeigt.

Lee hat ein mahnendes Buch geschrieben, das uns vor Augen führt, welche dramatischen sozialen Folgen die künftigen KI-Anwendungen haben werden. Es ist ein sehr persönliches Buch, das uns am radikalen Lebenswandel eines Menschen teilhaben lässt und uns daran erinnert, was im Leben wirklich wichtig ist. Und Lee reißt die kulturellen Grenzen zwischen China und den USA ein und vermittelt dem westlichen Leser, wie chinesische Unternehmer „ticken“ und wie die chinesische Geschäftskultur aus dem Blickwinkel eines KI-Experten aussieht, der sowohl im Westen als auch in China zuhause ist.

Lesenswert!

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Über das richtige Zeitmaß

Jeder Anfänger will es wissen: wie lang soll eine Qigong-Übungseinheit dauern? Genügen  zehn Minuten oder muss es schon eine halbe oder gleich eine ganze Stunde sein? Wieviel  Zeit muss man im Tagesablauf einplanen, damit die Übungen auf längere Sicht auch  Wirkung zeigen?

Wudang-Lehrer empfehlen eine halbe Stunde am Stück, kürzer macht keinen Sinn. In den Schulen im Wudangshan wird sogar deutlich länger unterrichtet, von 8 – 11.30 Uhr und von 14.30 bis 18 Uhr, ausgedehnte Pausen inklusive, sodass man effektiv mindestens zweimal 2 Stunden übt. Aber da der Alltag – leider – nicht nur aus Qigong-Üben besteht, ist die Frage schon berechtigt: wie lange sollte eine Übungseinheit mindestens sein?

katzemitmann

Auch hier gilt: 30 Minuten für Katze und Mensch und immer lächeln … Bild: WeChat-Account von Suodajikanbu, 20.7.18

Die richtige Übungsdauer hängt eng mit der im Körper zirkulierenden Lebensenergie Qi  zusammen und zwar mit der Geschwindigkeit, mit der sie durch den Körper fließt. Qi wandert unablässig entlang der Leitbahnen durch den gesamten Körper, rechts wie links, hinten wie vorne, oben und unten. Für einen vollständigen Umlauf benötigt sie knapp eine halbe Stunde. Übt man so lange, dann hat die durch die Übungen aktivierte und aufgenommene Qi die Möglichkeit, den gesamten Körper zu durchdringen. Übt man kürzer, kann sie nicht komplett durch alle Bahnen fließen, bleibt vielleicht auf halbem Weg stehen, sammelt sich an bestimmten Stellen und führt manchmal sogar zu Disharmonien im Körper.

Aber wie kommen die Chinesen auf eine halbe Stunde? Das ist eine ganze Menge Rechnerei gespickt mit viel chinesischer Kosmologie. Im Klassiker der Schwierigkeiten Nanjing, Kap 1 steht: „Einmal ausatmen, das Qi bewegt sich 3 Cun, einmal einatmen, das Qi bewegt sich 3 Cun, ein Atemzug, das Qi bewegt sich 6 Cun“. Cun ist ein Körpermaß. 1 Cun entspricht der Breite des Daumens oder der Länge des Mittelfinger-Knochens, vier Finger zusammen entsprechen 3 Cun. Cun wird vor allem dazu verwendet, um Akupunkturpunkte zu lokalisieren. 10 Cun sind 1 Chi und 10 Chi sind 1 Zhang.

Und weiter steht im Klassiker der Akupunktur Lingshu, Kap. 15 „Der 50-fache Kreislauf“ und Kap. 17 „Die Maße der Gefäße“:  Im menschlichen Körper gibt es 28 große Leitbahnen (die 12 paarigen Leitbahnen, je linke und rechte Seite, dann das Aufseher- und das Kontrolleurgefäß sowie die beiden Läufer-Gefäße, macht insgesamt 28). Die Gesamtlänge dieser Leitbahnen beträgt 16 Zhang und 2 Chi oder 1620 Cun, d.h. nach 270 Atemzügen (1620 geteilt durch 6) ist die Qi einmal komplett durch den Körper geflossen.

Zugleich gibt es am Himmel 28 Sternbilder, die an einem Tag von der Sonne durchlaufen werden, ein Tag entspricht 100 Teilstriche. Als Zeitmessinstrument hatten die Chinesen im Altertum eine Wasseruhr, der Stand des Zeigers gab die vergangene Zeit in einem Dezimalsystem an, 100 Teilstriche entsprechen 24 Stunden.

Nun verbinden die Chinesen den Lauf der Sonne durch die Sternbilder mit dem Qi-Fluß durch den Körper und rechnen folgendermaßen: in einem Qi-Umlauf, also nach 270 Atemzügen, bewegt sich die Sonne um 2 Teilstriche, d.h. pro Tag läuft das Qi 50 Mal durch den Körper (100 Teilstriche geteilt durch 2) und der Mensch atmet dabei 13.500 Mal (270 mal 50). Rechnet man dies in unser heutiges Sechziger-System um, benötigt ein Qi-Umlauf genau 0,48 Stunden (24 Stunden geteilt durch 50), also etwa 28 Minuten – eine knappe halbe Stunde.

In heutigen Medizinbüchern steht allerdings, dass die normale Atemfrequenz eines Erwachsenen in Ruhe bei durchschnittlich 12 Atemzügen in der Minute liegt, also bei 17.280 Atemzügen pro Tag, deutlich mehr als die chinesischen 13.500. Stimmt das Modell der Chinesen nun nicht? Aber vielleicht haben die Menschen in China früher langsamer geatmet oder die 13.500 Atemzüge stellen eine Art Idealzustand dar, bei der Mensch und Kosmos, Qi-Umlauf, Atem und Sonnenbahn in optimaler Harmonie stehen.

Wie dem auch sei, wichtig ist, dass man dem Körper Zeit lässt, sich auf die Übungen einzustellen, eine halbe Stunde oder besser noch eine ganze Stunde sind dafür schon notwendig. Aber wenn man mal nicht so lange üben kann oder wenn das Telefon plötzlich klingelt oder der Postbote beim Üben stört, dann muss man darauf achten, dass die Übung ordentlich abgeschlossen wird und das Qi stets zum Ursprung ins Dantian zurückgeführt wird. Dann kann auch kein „Krümmelchen“ Qi irgendwo im Körper hängen bleiben oder verloren gehen.

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Die chinesischen Merksprüche „koujue“

Sie sind sprachliche Perlen, sie sind kleine Gedächtnishelfer, die mit nur wenigen Sätzen die Essenz des Qigong ausdrücken, sie sind ein Erfahrungsschatz vieler Generationen, sie beruhigen und verbreiten gute Stimmung, sie klingen wie Musik in den Ohren, schaffen Abstand zum Alltag und stimmen sanft auf jede Übung ein. Gemeint sind die chinesischen Merksprüche koujue – doch werden sie bei uns nur selten im Unterricht eingesetzt.

Dabei sind die koujue äußerst praktisch. In China sind sie weitverbreitet, nicht nur in der Kampfkunst und im Qigong. Chinesen lieben es, komplexe Sachverhalte in drei oder vier Zeichen zusammenzufassen. Die Sprache eignet sich dafür, Chinesisch ist eine der reduziertesten Sprachen der Welt. Und der Sprachwitz der Chinesen kennt dabei keine Grenzen. Aktuelles Beispiel aus Beijing: kaiqiang dadong – Mauer bauen, Löcher reinhauen. Damit bezeichnet der Beijinger Volksmund die Aktion der Stadt Beijing, in der Altstadt manch allzu groß geratene Schaufensterfront einfach zuzumauern und hinterher wieder kleine Fenster einzufügen – eine Maßnahme, angeblich um Beijing wieder „traditioneller“ und „schöner“ erscheinen zu lassen.

Aber zurück zu den koujue. Ähnlich wie die fantasievollen Namen einzelner Übungen
wie „Mit beiden Händen den Himmel halten und den Dreierwärmer regulieren“ oder „Die Schwarze Schildkröte steigt ins Wasser“ sind die koujue nützliche Gedächtnishelfer, die auf geniale Weise die Quintessenz einer Übung konkret und anschaulich auf den Punkt bringen. Sie bieten Hinweise auf die Bewegungsabfolge genauso wie auf die geistige Haltung. Es lohnt sich, die Namen und Merksprüche einzuprägen.

Man spricht die koujue vor der Übung, wenn der Körper gerade aufgerichtet ist, die Beine und Füße geschlossen und verwurzelt sind. Der Kopf steigt nach oben, die Arme liegen seitlich am Körper und die Schultern und Ellbogen streben nach unten – die Ausgangstellung und rujing-Phase jeder Übung. Man kann die koujue laut sprechen, sodass der Klang eine zusätzliche Wirkung erzeugt. Aber man kann sie auch nur leise vor sich hin murmeln.

Ein schönes Beispiel ist der koujue von Professor Zhang Guangde aus „Neun Übungen zur Stärkung des Körpers“. Warum nicht bei der nächsten Qigong-Übung ausprobieren?

In der Stille des Morgens ziehen die zehntausend Gedanken davon;
Lenke die Aufmerksamkeit zum Dantian und schließe die sieben Öffnungen des Gesichts;
Atme ein und aus, sanft und langsam, und baue die Elsterbrücke;
Der Körper – federleicht wie eine Schwalbe am Himmel.

夜阑人静万虑抛

意守丹田封七窍

呼吸徐缓搭鹊桥

身轻如燕飘云霄

yelan renjing wan lü pao

yishou dantian feng qi qiao

huxi xu huan da queqiao

shen qing ru yan piao yun xiao

 

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Chinesische Zahlenträume

Chinesen sind Zahlenakrobaten. Kein Firmenportrait ohne detaillierte Umsatz- und Produktionszahlen, Kapital- und Investitionsvolumina der letzten zehn Jahre, keine Präsentation ohne Anzahl der Mitarbeiter, Quadratmeter des Firmengeländes, Höhe und Länge der Produktionshallen, jüngst auch Anschlüsse von Elektroladestationen, ohne Jahreszahlen der Firmenjubiläen und zahllosen Auszeichnungen. Chinesen reihen  auswendig und ohne zu stocken nicht enden wollende Zahlenkolonnen aneinander – für uns Westler ungewohnt und ermüdend.

In China sind Zahlen jedoch sehr wichtig. Zahlen haben Symbolkraft und geben mit scheinbar unwiderlegbarer Objektivität die Realität wieder. Zahlen sind im alten China Ausdruck kosmischer Harmonie und Abbild der allumfassenden Wirkweise des Himmels. Die Acht Trigramme, die Fünf Wandlungsphasen, die Zwölf Himmelsstämme und die Zehn Erdzweige oder der 9-fache Palast Jiu Gong, dessen Zahlen 1 bis 9 so angeordnet sind, dass die Summe immer 15 ergibt, sind dafür nur einige Beispiele.

Der quadratische Palast der Zentralen Harmonie im Kaiserpalast entspricht einem Jiu Gong. Er ist in Architektur umgesetzte Zahlenmystik, Spiegel des himmlischen Gleichgewichts, er ist Mittelpunkt des Kaiserpalastes und Zentrum der Welt, in der der „Sohn des Himmels“, der Kaiser Chinas, lebte und regierte.

Der Kaiserpalast: Symbol der harmonischen Weltordnung

Der Kaiserpalast in Beijing: Abbild der harmonischen Weltordnung mit China als Zentrum

Auch im modernen China haben Zahlen magische Kraft und spielen eine strategische  Rolle für die Zukunft des Landes. Nehmen wir zum Beispiel diese Jahreszahlen: 1839-42, 1848, 1921, 1949, 2021, 2049.

Ende des 18. Jahrhunderts wird der Verfall der letzten Kaiserdynastie offensichtlich, die Kolonialzeit in China beginnt. 1839-42 findet der für China desaströse erste Opiumkrieg statt, die damals waffentechnisch überlegenen Engländer, später auch Franzosen, Amerikaner, Deutsche und Japaner, erzwingen die Öffnung Chinas und richten in Hongkong, Shanghai, Beijing und anderen Städten exterritoriale Gebiete für Gesandtschaften und Kaufleute ein. In China nennt man diese Zeit die „schmachvolle Periode“. Fast zur selben Zeit, 1848, erscheint jedoch das Kommunistische Manifest von Karl Marx. Der Keim für Veränderung ist gelegt und 1949 – also 100 Jahre danach – kann Mao Zedong auf dem Tor des Himmlischen Friedens in Beijing die Volksrepublik China ausrufen. Zufall?

Nehmen wir die nächste wichtige Jahreszahl: 1921, Gründung der Kommunistischen Partei Chinas. Wieder hundert Jahre später – also 2021 – soll in ganz China eine Gesellschaft des „bescheidenen Wohlstands“ verwirklicht sein und bis 2049 – 100 Jahre nach Gründung der Volksrepublik – wird China ein „modernes sozialistisches Land sein, das wohlhabend, stark, demokratisch, kulturell fortschrittlich und harmonisch ist“. Bis dahin wird China etwa 30 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung erzeugen, was den Verhältnissen der vorkolonialen Zeit entsprechen soll.

1921-2021 und 1949-2049 sind die sogenannten „Zwei Hundertjahres-Ziele“ des Chinesischen Traums, des Traums vom Wiederaufstiegs der chinesischen Nation, den der derzeitige Staatspräsident Xi Jinping zu Beginn seiner Amtszeit beschworen hat und der die alte Schmach der Kolonialzeit gewissermaßen wieder wettmachen und an die globale Vormachtstellung Chinas in der vorkolonialen Zeit anknüpfen soll.

China sieht sich in einer über 2000-jährigen geschichtlichen Kontinuität, die mit den ersten chinesischen Kaiserreichen beginnt – sie bestanden in etwa zur selben Zeit wie das römische Reich – und mit der heutigen Volksrepublik China endet. Allerdings ist das römische Reich wie alle anderen antiken Großreiche schon lange untergegangen. Nur China gibt es immer noch. Zufall? Was machen da schon 100 oder 200 Jahre aus. Man denkt langfristig und in großen Zusammenhängen und das nicht erst seit Xi Jinping. Das Jahr 2049 tauchte schon 1985 in einer Rede des damaligen Generalsekretärs der Kommunistische Partei Hu Yaobang auf, und der ehemalige Staatspräsident Jiang Zemin nannte 1997 zum ersten Mal die „Zwei Hundertjahres-Ziele“. Xi Jinping hat den Chinesischen Traum nicht erfunden, er hat ihn jedoch zu seiner Regierungsdevise gemacht.

Kann man das wörtlich nehmen? Für unser Empfinden hört sich das konstruiert und übertrieben an, ein wenig nach Zahlenbeschwörung und nach Appell an das chinesische Nationalgefühl. Jedenfalls kann man den Chinesen nicht vorwerfen, sie würden ihre Absichten geheim halten. Varianten obiger Sichtweise liest man in offiziellen Dokumenten der Nationalversammlung, in Parteitagsbeschlüssen, Statuten der Kommunistischen Partei und in Artikeln einschlägiger Parteimedien. Im Nationalmuseum gibt es dazu seit 2012 sogar eine umfangreiche Dauerausstellung. Trotzdem nehmen nur wenig westliche Chinabeobachter diese Diskussion wahr.

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Linker Hand Weltraumraketen, rechts Friedenstauben und der rote Stern der Partei: mit solchen Motiven wirbt die chinesische Regierung für den Chinesischen Traum. Der Text lautet: „Chinesischer Traum – den großartigen Wiederaufstieg des chinesischen Volkes verwirklichen“. Bild: fzsb.hinews.cn

Chinas Wirtschaft schwoll von 1,2 Billionen USD im Jahr 2000 auf 11 Billionen USD im Jahr 2015 an (Statistik der Weltbank). Sie ist nach den USA (2015: 17 Billionen USD) die zweitgrößte Wirtschaft der Welt und sie wächst jährlich immer noch um etwa 6.5 Prozent. Als Mitte letzten Jahres die chinesische Wirtschaft unerwartet schwächelte, sanken die Weltmarktpreise für Rohöl, Kupfer und andere Rohstoffe. Als im Jahr zuvor an der Shanghaier Börse plötzlich die Kurse sanken, hatte das auch auf andere Börsenplätze negative Auswirkungen. Das Belt and Road Forum im Jahr 2017 hat gezeigt, in welchen globalen Kategorien Chinas Führer denken und welchen „Traum einer harmonischen Weltgesellschaft“ sie propagieren.

Wenn sich China so weiter entwickelt wie in den vergangenen fünfzehn Jahren, wenn die krassen Einkommensunterschiede nicht doch irgendwann China „implodieren“ lassen, wenn die massive Umweltverschmutzung nicht das Wirtschaftsleben und die Gesundheit der Menschen untergräbt, wenn Präsident Trumps Bemühungen China einzudämmen keinen Erfolg haben, dann wird China in einigen Jahren zweifelsohne ein einflussreiches und mächtiges Land sein und die Welt insgesamt „chinesischer“ machen. Das sind zwar eine Menge „Wenns“ und „Abers“, aber in den letzten 15 Jahren haben schon viele sogenannte westliche China-Experten den Untergang Chinas vorhergesagt. Bislang ist regelmäßig das Gegenteil eingetreten und der Aufstieg Chinas verläuft in etwa so wie es die Parteiführung angekündigt haben.

Wir im Westen beschäftigen uns zu wenig mit China. Vor allem wir Deutschen halten es bislang nicht für nötig, uns mit seinen Denkweisen und kulturellen Traditionen ernsthaft auseinanderzusetzen. Es wird Zeit, dass wir das ändern. China wird in Zukunft wichtiger werden und auch unser Leben in Europa mit bestimmen.

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Bin ich noch „Deutschland kompatibel“?

Jetzt sind es wirklich nur noch ein paar Tage bis zum Abflug nach Frankfurt am Main. Was hat sich in Deutschland verändert? Wie hat mich China verändert? Komme ich noch zurecht nach drei Jahren Beijing? Bin ich noch „Deutschland kompatibel“?

Darmstadt hat zum Beispiel den Titel „Digitale Stadt“ gewonnen, lese ich. Anfang 2018 sollen die ersten Projekte umgesetzt werden. Anfang 2018? Warum so spät, frage ich mich spontan und denke an die rasante Geschwindigkeit, mit der manches Projekt in Beijing umgesetzt wird. Aktuelles Beispiel: Leihfahrräder. Es dauerte kein Jahr und in Beijing und anderen Städten Chinas waren Millionen von Leihfahrrädern unterwegs, um den Autoverkehr etwas zu entlasten. Aber mittlerweile sind es so viele Räder, dass sie Bürgersteige, U-Bahn-Eingänge, ja ganze Straßenzüge verstopfen. Beijings Straßen sind zwar breit, aber nicht so breit, dass sie plötzlich Tausende von Fahrräder aufnehmen können. Vielleicht ist es doch ganz gut, man plant ein halbes Jahr länger, denkt an mögliche Folgen und bezieht Partner mit ein, und beginnt dann erst mit der Umsetzung, so wie das typischerweise in Deutschland geschieht. Ein Chinese würde jetzt allerdings sagen: ha, das dauert zu lange, dann gibt es schon wieder etwas Neues, und an alles kann man im Vorhinein sowieso nicht denken. Lieber gleich los schwimmen als sich zu lange am Ufer festklammern. Ein Scheibchen davon könnten wir uns abschneiden.

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Gelbe, blaue, rote, grüne Leihfahrräder soweit das Auge reicht: Eine Kreuzung in Sanlitun, Beijing, für Fußgänger ist kaum noch Platz. Jede Firma hat ihre eigene Farbe. Marktführer sind die roten (Mobike) und die gelben (Ofo). Hinter beiden Unternehmen stecken große IT-Konzerne. Alibaba hinter Mobike, Xiaomi hinter Ofo. Jedes Fahrrad ist mit einem GPS-Sender ausgestattet und kann jederzeit geortet werden.

So rasant manche gesellschaftliche Entwicklung vorangeht, so viel Geduld haben Chinesen im alltäglichen Leben. Busfahren zum Beispiel. Mit welcher Engelsgeduld die Beijinger auf den Bus warten, einen Fahrplan gibt es nicht. Manche Angestellte haben einen 2- bis 3-stündigen Anfahrtsweg bis zur Arbeitsstätte, einfacher Weg wohlgemerkt. Die Fahrtzeit kann man nicht genau vorhersehen, da es in Beijing unglaublich lange Staus geben kann. Aber die Beijinger bleiben ruhig, sitzen oder stehen im klapprigen Bus, morgens vor sich hindösend, abends mit dem Smartphone spielend, keiner regt sich auf, wenn der Bus mal nicht kommt, mal steht oder unterwegs kaputt geht und man auf den nächsten warten muss.

Was für ein Kontrast zu Deutschland! Als ich Anfang Juli auf der Fashion Week in Berlin war, traf ich nur gehetzte, schimpfende, durchgetaktete Einkäufer: der Shuttle-Bus war zu spät, man musste soundsoviel Minuten warten und überhaupt dauerte die Fahrt viel zu lange. Oder die S-Bahn kam ein paar Minuten später, man musste umsteigen, weil eine Baustelle war. Und dann richtig aufregen und laut werden: deswegen konnte man diesen und jenen Termin nicht wahrnehmen, grrrrr, so ein schlechter Service und so weiter, und so weiter. In diesen Momenten kamen mir die geduldigen, entspannten Beijinger Gesichter in den Sinn, schwankend im rumpeligen öffentlichen Bus, im Winter pfeift es durch die undichten Türen, im Sommer läuft der Schweiß den Rücken runter, irgendwo zwischen Dongzhimenwai und Chaoyang Gongyuan. Ein wenig mehr Gelassenheit im deutschen Alltag würde manches entspannen.

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Erst vor etwa einem Jahr gab es die ersten Leihfahrräder in Beijing. Heute sind es Millionen. Foto: Shijue Zhongguo

Es gibt auch Dinge, die bewegen sich in China sehr langsam. Die Verbesserung der Luft zum Beispiel. Es mangelt nicht an Gesetzen oder Kampagnen, aber es dauert und dauert und dauert bis Maßnahmen umgesetzt werden. Das hat das Umweltministerium offenbar auch bemerkt und schickte im Frühjahr diesen Jahres 5600 Kontrolleure nach Beijing, Tianjin und in der Provinz Hebei, um zu überprüfen, ob gesetzliche Umweltstandards eingehalten und Umweltschutzprogramme umgesetzt werden. Hin und wieder erscheinen darüber kurze Berichte in den Medien, vor kurzen dieser: bei etwa 70 Prozent der untersuchten Einheiten seien Umweltverstöße festgestellt worden, die Kontrolleure hätten die zuständigen Lokalbehörden darauf hingewiesen. Unglaublich. Oder: etwa die Hälfte der Kontrolleure seien zeitweise eingesperrt oder daran gehindert worden, Produktionsstätten zu betreten, andere Unternehmen hätten sich einfach geweigert, Daten freizugeben. Noch besser. In diesem Jahr, heißt es in einem anderen Bericht, habe man damit begonnen zu recherchieren (!), wieviel kleine Betriebe die Umwelt verschmutzen. Sie machten zwar als Einzelunternehmen nur wenig aus, aber in der Masse – und die Zahl geht in die Zehntausende – hat es schon eine Wirkung. Wohlgemerkt, das Luftverbesserungsprogramm – das berühmte „10-Punkte-Programm“ – ist bereits 2013 verabschiedet worden, 2016 beginnt man mit der Recherche.

Luft – so etwas Grundlegendes und Selbstverständliches – wenn sie mal nicht sauber ist, wenn sie mal so verschmutzt ist, dass man sie einfach nicht einatmen will, merkt man erst, was es bedeutet, zu jeder Tages- und Nachtzeit tief durchatmen zu können. Ich werde es sicher genießen, wieder bei offenem Fenster zu schlafen, keinen Luftfilter anstellen zu müssen oder am Wochenende einfach raus ins Freie zu gehen, ohne darüber nachzudenken, ob die Luft gut genug ist. Uffff.

A propos Bevölkerung einbeziehen, um noch mal auf die neue „digitale Stadt“ Darmstadt zurückzukommen: die Darmstädter konnten Vorschläge einreichen, was sie unter einer digitalen Stadt verstehen, was in ihrer Stadt digitalisiert werden soll und was ihnen nicht so wichtig erscheint. Sie konnten sich in Diskussionsrunden äußern, welche Befürchtungen sie haben und wo sie Probleme sehen. Wer nicht persönlich teilnehmen konnte, ging auf eine Webseite und konnte online eingeben, was er für wichtig hält. Wow. Bürgerbeteiligung, Zivilgesellschaft. Daran muss ich mich erst wieder gewöhnen. Stimmt ja, in Deutschland darf man sagen, was man denkt, man darf das sogar öffentlich tun und man darf selber mitmachen und mitgestalten. Wahnsinn.

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Die herrliche Berglandschaft und die alten Dörfer im Westen und Norden Beijings werde ich vermissen.

Als Kontrast ein Beispiel aus Beijing: seit einiger Zeit werden in der Altstadt allzu große Fensterfronten und Eingänge zugemauert. Meist sind davon kleine Restaurant-, Laden-, und Cafébetreiber betroffen, die in den letzten Jahren – meist ohne Genehmigung – ihre Altstadthäuschen etwas erweitert, aufgehübscht und moderner gestaltet haben. Eines Morgens stehen dann Ziegelsteine vor der Tür, dann kommen Arbeiter und mauern die Fenster und Türen einfach zu. Ausdiemaus. Wenn es Widerstand gibt, kommen ein paar Polizisten mit. Etwas später werden dann ein paar kleine, „Altstadt gerechte“ Fensterchen in die Mauer eingefügt. „Kaiqiang dadong“ (Mauer hochziehen, Löcher reinmachen) heißt im Beijinger Volksmund deswegen diese Aktion der Stadt, die seit etwa einem halben Jahr läuft. Angeblich – so ganz genau weiß man das nicht – geht es darum, illegale Veränderungen an Bauwerken wie Anbauten, große Eingänge oder Fensterfronten zu entfernen. Auch hört man, Beijing soll wieder „typisch nach Beijing“ aussehen, vor allem die Altstadt. Allzu große Fensterfronten gehören offenbar nicht dazu. Mehr Intransparenz und Willkür geht kaum.

Ach ja, der Verkehr, da wird es bestimmt ein paar Anpassungsschwierigkeiten geben. Ich darf beim Links-Abbiegen nicht mehr die Kurve schneiden, sodass ich dem Gegenverkehr zuvorkomme. Ich darf auch nicht einfach mal auf der Fahrbahn stehen bleiben, um mein Wechat kurz zu checken. Als Zweiradfahrer muss ich eine rote Ampel wieder ernst nehmen und als Fußgänger darf ich wieder davon ausgehen, dass die Autos am Zebrastreifen halten. Wenn ich einen Polizisten sehe, sollte ich besser nicht einfach um ihn herumfahren, ohne darauf zu achten, was er von mir will. Blinken beim Spurwechsel oder Abbiegen wäre ganz gut, ebenso wie ab und zu in den Rückspiegel schauen. In China schaut man in der Regel nur nach vorne. Was hinten passiert, interessiert nicht. Und, ja, Autos haben Bremsen. Chinesen bremsen nur sehr zaghaft und nur wenn sie unbedingt müssen. Um Hindernisse auf der Straße fährt man herum, an Kreuzungen oder Einfahrten rollt man langsam vor bis man irgendwann drin ist, auch gerne in den Gegenverkehr, es funktioniert, ehrlich. Ob ich mich wohl wieder an den deutschen, geordneten Verkehr gewöhnen kann?

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Diesen Ort werde ich auch vermissen: Wudaoguan am Houhai in Beijing

Was wird mir in Deutschland fehlen? Die herrlichen Berge im Westen und Norden von Beijing werde ich vermissen. Meine Wudang-Lehrer und die nette, kleine Kampfkunstschule Wudaoguan am Houhai. Schnief. Einmal die Woche war ich dort zum Qigong- und Taijiquan-Training. Wenn ich Zeit hatte, ging ich noch zum Zhonglou, um zusammen mit ein paar alten Beijingern zu üben. Dreimal war ich in Wudangshan.  Wushu, Qigong, Taijiquan werde ich in Deutschland auf jeden Fall weiter machen.

Und was noch? Die Beijinger Altstadt, die Hutongs. Die Altstadtviertel machen Beijing aus, nicht die modernen, glitzernden Hochhausfassaden des Central Business Districts. Ich hoffe, dass sie noch lange erhalten bleibt. Und die Beijinger selbst natürlich, die ganz normalen Bürger dieser Stadt, die mit ihrer unbändigen Energie, mit ihrer Offenheit und Direktheit, mit ihrem unglaublichen Optimismus, ihrer ewigen Geduld, ihrer Kreativität und ihrer Zähigkeit noch jede Schwierigkeit überwunden haben.

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Das echte Beijing ist versteckt

„Die größten Dinge auf dieser Welt sind unsichtbar – Liebe, die Erdanziehungskraft, Vertrauen – und die schönsten Beijinger Hofhäuser, die sogenannten Sihe Yuan (wörtlich: Vier-Beisammen-Höfe)“, sagt Fan Yang, Architekt und Gründer der Website Elsewhere. Das klingt zwar etwas pathetisch – man könnte ohne Weiteres den Weihnachtsmann, das Christkind und den Heiligen Geist ergänzen – es trifft aber den Nagel auf den Kopf. Die Hofhäuser sind unscheinbar, von außen sieht man höchstens schlichte Mauern und kleine unscheinbare Fenster, eine Holztüre, eine kleine Treppe oder ein paar behauene Sockelsteine. Die eigentliche Schönheit ist versteckt, liegt hinter den abweisenden Mauern  und zeigt sich erst, wenn man durch das Eingangstor tritt und Raum für Raum die Schönheiten der inneren Anlage entdeckt.

Fan Yang, der erst kürzlich nach Beijing gezogen ist nachdem er sein Architekturstudium in den USA absolviert hat, liebt traditionelle Beijinger Architektur. Er renoviert und modernisiert alte Hofhäuser und vermietet sie dann auf Elsewhere. Darunter finden sich moderne Teehäuser, umgebaute Tempelanlagen genauso sowie einfache aber ungewöhnliche Räume, die zum Entspannen, zur Inspiration, zum Verweilen, zum Arbeiten, zum Musikmachen, zum Diskutieren oder einfach Alleinsein einladen. Elsewhere funktioniert wie Airbnb nur ohne Übernachten.

Fan Yang macht keine Werbung, es gibt eine Elsewhere Wechat-Seite, auf der die Räume gebucht werden können. Kürzlich organisierte Fan Yang eine Podiumsdiskussion zum Thema Modernisierung alter Hofhäuser in Beijing. In der Regel wird der Wechat-Kontakt jedoch unter Freunden weitergegeben, nicht viel anders als Teng Jings kleines Hotel Mingmingshan Ju in den Beijinger Bergen, die kleine Wushu-Schule Wudaoguan am Houhai, das Guiguzi-Tal oder der alte Kaiserkanal zum Sommerpalast. Die schönsten Dinge in Beijing sind versteckt und auf den ersten Blick unsichtbar. Man entdeckt sie entweder durch Zufall oder über persönliche Beziehungen. Beijing ist zwar eine moderne Metropole, aber Informationen und Kontakte verbreiten sich wie in einer Dorfgemeinschaft hauptsächlich innerhalb persönlicher Netzwerke. Das gilt für das Privatleben genauso wie fürs Geschäft.

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Im Innenhof des 600 Jahre alten Zhizhu-Tempels stehen moderne Skulpturen des chinesischen Künstlers Wang Shugang.

Eine der schönsten Anlagen auf Elsewhere ist der Zhizhu-Tempel. Die Ursprünge des Tempels liegen etwa 600 Jahren zurück, als Beijing die Hauptstadt der Ming-Dynastie wurde. Im Tempel, der in einer unscheinbaren, verwinkelten Seitenstraße nördlich des Kaiserpalasts liegt, waren ursprünglich die Druckereien für buddhistische Lehrschriften untergebracht. Die der Mingdynastie folgenden Qing-Kaiser erweiterten die Anlage um zwei weitere Tempel und bauten sie zu einem wichtigen religiösen Zentrum aus. Als Maos Truppen 1949 in Beijing einzogen, wohnte in der Tempelanlage noch der Sechste Lebende Buddha.

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In der größten Halle des Zhizhu-Tempels findet man neben den alten Säulen auch noch Sprüche aus den 70er Jahren, als der Tempel noch eine Fabrik war.

In den ersten Jahren der Volksrepublik sind die meisten der rund 3000 Beijinger Tempel geschlossen, abgerissen oder zu Fabriken umgebaut worden. Der Zhizhu-Tempel war nacheinander eine Fabrik für Lackmosaiken, eine Fahrradfabrik, dann eine Fabrik für medizinische Geräte, in den 70er Jahren wurden im ehemaligen Tempel die ersten chinesischen Fernsehgeräte hergestellt. Der kleine Produktionsbetrieb konnte mit der rasanten Modernisierung der 90er Jahre und danach nicht Schritt halten und musste schließen. Der Tempel verfiel zusehends, bis im Jahr 2007 ein Belgier die baufällige Ruine entdeckte und sie behutsam zu renovieren begann. Heute sind im Zhizhu-Tempel neben Konferenz- und Arbeitsräumen ein exzellentes Restaurant mit chinesisch-internationaler Küche sowie eine kleine Kunstgalerie mit wechselnden Ausstellungen untergebracht. Im Hof stehen Skulpturen des chinesischen Künstlers Wang Shugang. Ein gutes Restaurant, moderne Konferenz- und Veranstaltungsräumlichkeiten, zeitgenössische Kunst, 600 Jahre alte Architektur sowie Sprüche aus der Maozeit – der Zhizhu-Tempel spiegelt die Geschichte Beijings wie im Brennglas wider.

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Ein Arbeits- und Konferenzraum im Zhizhu-Tempel

Beijing macht es dem Besucher nicht leicht. Die schönsten Orte sind versteckt, auf den ersten Blick abstoßend und nur schwer zugänglich. Aber mit etwas Geduld und den richtigen „Drähten“ kommt man ihnen auf die Schliche. Sie sind grandios und einzigartig.

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Beijings „Unorte“

Leider gibt es nicht nur „Lieblingsorte“ in Beijing, es gibt auch einige „Unorte“, Orte, die  unangenehm sind, die einmal schön waren, die aber mittlerweile auf die eine oder andere Weise „kaputt“ sind, entweder „kaputt kontrolliert“ oder „kaputt saniert“ oder im schlechtesten Fall beides.

Der Tiananmen-Platz gehört dazu – leider, leider. Eigentlich ein herrlicher Ort, unfassbar weitläufig, vielleicht der größte innerstädtische Platz weltweit, mit chinesischer Flagge, Revolutions-Denkmal, Mao-Mausoleum, Nationalmuseum und Nationalversammlung, im Norden das Haupttor zum Kaiserpalast, durch das der Kaiser den Palast verlassen hat, wenn er auf Inspektionsreise ging, wo rechts und links die kaiserlichen Ministerien angesiedelt waren, wo kaiserliche Erlasse verkündet wurden. Hier hat auch Mao Zedong am 1. Oktober 1949 die Volksrepublik verkündet, hier fanden die großen Aufmärsche und Militärparaden statt. Mehr Symbolik, mehr Pracht – zeitgenössisch wie historisch – geht nicht. Leider ist der Platz „kaputt kontrolliert“ und „kaputt modernisiert“. Nichts darf an die studentischen Unruhen im Jahr 1989 und deren blutige Niederschlagung erinnern. Taschen- und Jackenkontrollen an allen Eingängen verursachen lange Warteschlangen, mehrfache Gitter versperren den Weg zwischen Fahrbahn und Platz, damit der Autoverkehr nicht beeinträchtigt wird, überall Polizei, Militär, Polizisten in Zivil, Videokameras, man fühlt sich unablässig beobachtet, gelenkt und gegängelt. Restaurants, Kaffees oder Teestuben gibt es nicht mehr, auch nicht in den angrenzenden Straßen. Um 17 Uhr wird der Platz geräumt, alle Besucher müssen ihn durch einen einzigen Ausgang verlassen, der zusätzlich durch Rollgitter verengt wird. Was für eine unangenehme, beklemmende, angespannte Stimmung.

Auch die Qianmen-Straße südlich des Tiananmen-Platzes, würde ich dazu zählen. Früher war sie eine quirlige Geschäftsstraßen in Beijing Chinesenstadt, die vom Zhengyang-Tor Richtung Süden führte. Vor ein paar Jahren ist sie saniert worden, „kaputt saniert“. Die ersten  Häuserreihen wurden abgerissen. An ihrer Stelle stehen jetzt kulissenartige, verklinkerte Betonbauten, angeblich nach historischem Vorbild gebaut. In den unteren Stockwerken sind westliche Brands à la Starbucks, H&M oder chinesische Traditionsunternehmen wie der Stoffschuhhersteller Neilian Sheng oder das Pekingenten-Restaurant Quan Ju De. Eine pseudo-alte Straßenbahn bimmelt sich den Weg durch die Touristen. Die große Qianmen-Straße ist zu einer Art „China History Shopping Park“ mutiert. Wenn wenigstens das funktionieren würde. Viele Läden stehen schon wieder leer oder sind gar nicht bezogen worden, da die Behörden wie so häufig am Bedarf vorbei geplant haben. Die Bausubstanz lässt zu wünschen übrig, sodass die zahlreiche Gebäude schon wieder am Verfallen sind. Was passiert, wenn der Verfall fortschreitet? Wird dann wieder alles abgerissen und wieder neu gebaut? Von der alten Bausubstanz, auf die man hätte aufbauen können, ist jedenfalls nichts mehr da.

Das Riesenrad im Chaoyang-Park ist ein dritter „Unort“. Eigentlich sollte es das größte Riesenrad der Welt sein und zur Olympiade 2008 eröffnet werden. Aber dazu kam es nicht. Heute ist das Areal weiträumig abgesperrt und rottet vor sich hin, wie eine ganze Reihe von unfertigen, leerstehenden oder ungenutzten Gebäudekomplexen in der Stadt. Wie im ganzen Land gibt es auch in Beijing eine Reihe sogenannter „Geisterstädte“, Fehlinvestitionen, Fehlplanungen, halbfertige Wohnviertel, die einfach leerstehen, allmählich zuwachsen, vergammeln. Schade um die verschwendeten Ressourcen, um die fehlgeleitete Investition, um den verschwendeten Raum. Beijing ist zwar groß, aber auch nicht so groß, dass es ganze Wohnanlagen und Gebäudekomplexe leer stehen lassen könnte.

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